Teegenuss vor der Datscha um
1907 ( Äà÷íîå ÷àåïèòèå 1907ã. )
So oder so ähnlich lauten meist Titel zu historischen Fotos
mit Samowaren, die in Büchern, Zeitschriften und dem Internet veröffentlicht
werden. Weitere Details erfährt der Betrachter in der Regel nicht.
Ich betrachte mir solche Bilder immer mit großem Interesse
sehr genau, gewähren sie doch einen Einblick in eine andere Zeit. Hierbei
interessiert mich keineswegs nur der Samowar.
Jedes auch noch so kleine Detail erweckt meine Neugier. Mit
Hilfe dieser Einzelheiten versuche ich dann, mich hineinzuempfinden in die
festgehaltene Szene, gleichsam zurückzureisen in jene längst vergangenen Tage.
Wie sah es damals aus? Wie waren die Menschen gekleidet? Was dachten wohl die
abgelichteten Personen gerade? Wie und wo lebten sie? Was für Gegenstände außer
dem Samowar wurden noch benutzt? Wie sahen sie aus?
Je mehr Details also auf solch einer Aufnahme zu erkennen
sind, und je besser erhalten die Aufnahme ist, desto besser ist solch eine
Zeitreise zurück in die Vergangenheit möglich.
Bedauerlicherweise erfährt der interessierte Betrachter im
Kommentar zum Bild fast nie Hintergründe, die das auf der Aufnahme Gezeigte
ergänzen und diese somit noch lebendiger werden lassen könnten. Wahrscheinlich
sind in den meisten Fällen solche Informationen im Laufe der vielen vergangenen
Jahrzehnte verlorengegangen.
Im Falle der hier gezeigten historischen Aufnahme sieht das
glücklicherweise etwas anders aus.
Zu sehen ist ein elegant gekleidetes Ehepaar mit seinen drei
Kindern, das draußen unter freiem Himmel an einer gedeckten Teetafel sitzt.
Die beiden Söhne tragen sogenannte Matrosenanzüge, was damaliger Mode entsprach.
Das zentrale Element auf dem Tisch bildet ein
hochglanzpolierter zylinderförmiger Samowar. Dieser steht auf einem ovalen
Tablett, und auf ihm befindet sich eine offensichtlich einfarbig weiße
abgeflachte Porzellanteekanne. Bei genauerem Hinschauen entdeckt man auf dem
Tablett sogar auch die kleine Kappe, die anstelle der Teekanne oben auf die
Heizröhre gesetzt wird, sobald die Glut im Samowar erlischen soll. Die Mutter betätigt
gerade den Hahn und gießt heißes Wasser in eine farbige mit Margariten
dekorierte Porzellanteetasse mit Untertasse. Auf dem Tisch befinden sich neben
weiteren Teetassen außerdem Wassergläser, sowie in der Mitte eine Torte. Links
dahinter, vor dem Jungen, steht zudem offensichtlich eine mit etwas gefüllte
flache Glasschale mit hohem Fuß.
Im Hintergrund links sind deutlich die Umrisse einer Datscha
zu erkennen.
Diese Datscha liegt bei Moskau. Bei der Familie handelt es
sich um meinen Urgroßonkel Adolf Port, seine Frau Fanny, sowie seine drei
Kinder Adolf jr., genannt Ado, Gertrud und Ernst (v.l.n.r.). Adolf Port war
Kaufmann und wanderte gegen Ende des 19.Jahrhunderts von Wiesbaden
nach Russland aus. In Moskau errichtete er als „Großkaufmann“ eine Textilwarenfabrik.
1898 wurde Tochter Gertrud geboren, im März 1900 folgte Sohn Ado, und im Oktober 1901
kam Sohn Ernst zur Welt.
Zum Zeitpunkt der Aufnahme um das Jahr 1907 war die Welt für
die Familie noch in bester Ordnung. Harmonisch ausgeglichen schauen sie denn
auch in die Kamera, nicht ahnend, was ihnen alles noch bevorstehen sollte. Eine
trügerische Idylle, gleichsam der eines Traumstrandes, auf den von Ferne her
bereits ein Tsunami heranbraust!
Nun, wie ging es nach der Aufnahme weiter? Sieben Jahre
später, 1914, begann der Erste Weltkrieg, 1917 erfolgte die Oktoberrevolution.
Mein Urgroßonkel Adolf, damals 63 Jahre alt, wurde wie alle Kapitalisten
enteignet. Die Familie stand von einem zum anderen Moment quasi vor dem Nichts.
Nur gut zwei Jahre später, im Januar 1920 verstarb Adolf
Port. Doch damit nicht genug. Drei Monate später verstarb auch Tochter Gertrud
plötzlich, noch nicht einmal ganz 22 Jahre alt.
Sohn Ado wurde Ingenieur und arbeitete in der ehemaligen
Fabrik seines Vaters.
Im Jahre 1930 heiratete er im Alter von 30 Jahren in
Moskau seine russische Frau Lydia.
Am 10. Februar 1935 starb Mutter Fanny 66-jährig.
1937 wurde Ados Tochter Katharina geboren, die jedoch nur
ein halbes Jahr alt wurde.
Bald darauf begann der Zweite Weltkrieg, und in dessen
Verlauf erfolgte die Umsiedlung der in der Sowjetunion lebenden Deutschen gen
Osten. Ado wurde im Winter 1941 an den Ural nach Sredneuralsk (ã. Ñðåäíåóðàëüñê) bei Swerdlowsk (ã. Ñâåðäëîâñê) versetzt, und
musste dort bis Kriegsende als Konstrukteur in einer der zahlreichen
Metallwarenfabriken im Ural arbeiten. Nach Kriegsende leitete er bis zu seiner Pensionierung die technische Abteilung dieses Werkes. Die Tragik der Umsiedlung in die ferne fremde Welt
des Ural wurde verstärkt dadurch, dass seine Frau sich weigerte, mit ihm
dorthin zu kommen. So zerbrach denn auch noch seine Ehe.
1946 heiratete er in Sredneuralsk erneut und zwar die am
14.12.1904 in Perm/Ural geborene Frau Ekatharina Waganowa (Åêàòåðèíà Âàãàíîâà), genannt Katja, eine
Witwe mit drei bereits verheirateten Töchtern.
Über Ados jüngeren Bruder Ernst (das ist der, der an der Teetafel
neben seinem Vater sitzt) ist mir nur soviel bekannt, als dass er unverheiratet blieb, im 2.Weltkrieg nach
Kasachstan umgesiedelt wurde und dort bald darauf Ende 1942 als
„Dienstpflichtiger“ an Typhus verstarb.
In den Wirren des Zweiten Weltkrieges ging der Kontakt zu
meinem Großonkel Ado verloren. Erst 1963 wurde er nach
gründlichen Recherchen durch meinen anderen Großonkel Hans aus Wiesbaden
wiederhergestellt. Unter schwierigen Umständen und unter ständiger Beobachtung
durch die Stasi traf sich dieser Großonkel daraufhin gemeinsam mit meinen Großeltern
mehrmals in den 1960er und 1970er Jahren mit Großonkel Ado in der DDR und zwar in
Heiligenstadt/Thüringen und in Ost-Berlin. „Es ist
für mich, als sei noch einmal die Sonne über meinem Leben aufgegangen“, waren
Ados Worte bei der ersten Begegnung mit Verwandten nach so vielen harten
Jahren.
Am 13. September 1977 verstarb Ado Port im Alter von 77 1⁄2
Jahren in Sredneuralsk als letztes Familienmitglied der auf der
historischen Aufnahme von 1907 abgebildeten Personen.
Der Samowar, auf der Aufnahme gleich einem weiteren
Familienmitglied in Position gerückt, beweist, welch hohen Stellenwert zu jener
Zeit Samoware in Russland besaßen. Es war die Blütezeit der Samowarproduktion.
Was ist wohl aus diesem inzwischen 100 Jahre alten Samowar
geworden? Wurde er längst verschrottet, oder existiert er vielleicht auch heute
noch, liebevoll gepflegt in irgendeiner Privatsammlung? Wer weiß!